Zeit

Für Gott ist die Geschichte eine Ereignislandschaft. Für ihn gibt es keine Abfolge, weil alles gleichzeitig da ist. Vom kleinsten Vorkommnis bis hin zum bedeutenden historischen Ereignis ist in Gottes Auge nichts außergewöhnlich. (Jesus Sirach 39,25) Diese nur schwer vorstellbare transhistorische Landschaft erstreckt sich über alle Zeitalter hinweg, von einer Ewigkeit bis zur anderen. Und dieser kaum denkbaren Zone entspringen seit Anbeginn der Zeit die Generationen, die sich durch ihren beständigen Wandel gegen den Horizont einer ewigen Gegenwart abzeichnen. (…) Eine Zeitlandschaft, in der die Ereignisse unversehens an die Stelle der Oberflächengestalt und der Vegetation treten, in der Vergangenheit und Zukunft aus ein und derselben Bewegung hervorgehen und ihre Gleichzeitigkeit offensichtlich zutage tritt. In dieser Landschaft, in der nichts mehr zum Stillstand kommt, legt die fehlende Dauer der immerwährenden Gegenwart den Kreislauf der Geschichte und ihrer Wiederholungen fest.

Paul Virilio, „Ereignislandschaft“, 1998 Hanser Verlag, S.9

 

Die Zeit zerrinnt, die Zeit fließt ab und füllt sich neu – ganz nach dem englischen Dichter und Naturmystiker William Blake, auf den sich Christiane Fleissner inhaltlich mit der Darstellung der „Zeitschichten“ bezieht, gliedert sie auch in ihrer technischen Arbeitsweise den bildlichen Aufbau in unterschiedlichen Überlagerungen: die Fotografie zeigt den Augenblick, durchsichtig direkt auf die Plexiglasscheibe gedruckt, ermöglicht die Transparenz eine Betrachtung von beiden Seiten. Eine Einteilung von Vorder- und Hintergrund erscheint obsolet. Dadurch entstehen andere Bilder, andere Formen und „neue“ Augenblicke, die übereinander montierten Momente werden teilweise skelettartig zerstückelt in Einzelfragmente zerlegt, die sich so in eine neue Ordnung oder Reihenfolge zusammensetzen lassen. Christiane Fleissner entzieht dem Betrachter die Logik einer linearen Zeitenabfolge und zeigt in ihren fotografisch-skulpturalen Arbeiten eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse.

Annika Schoemann

 

RAUMSTRUKTUR